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STUDIE: Wie Kinder rechnen lernen – oder auch nicht

Erste, umfassende Studie über die Entwicklung von Rechenstrategien bei österreichischen ErstklässlerInnen macht massiven Handlungsbedarf im Schulsystem deutlich

neu-8Michael Gaidoschik hat für seine Dissertation „Die Entwicklung kindlicher Lösungsstrategien zu den additiven Grundaufgaben im Laufe des ersten Schuljahres“ 139 durch Zufallsauswahl bestimmte niederösterreichische Kinder zu Beginn, Mitte und am Ende ihres ersten Schuljahres zu ihren Rechenstrategien im Zahlenraum bis 10 und 20 befragt. Zusätzlich wurde der Mathematik-Unterricht analysiert, den diese Kinder in ihrem ersten Schuljahr erfahren haben.

Diese erste, umfassende Studie über die Entwicklung von Rechenstrategien bei österreichischen ErstklässlerInnen macht massiven Handlungsbedarf im Schulsystem deutlich. Die wichtigsten Ergebnisse der Dissertation können Sie hier nachlesen.

„Wie Kinder rechnen lernen – oder auch nicht“ ist die gekürzte (und noch immer 540 Seiten dicke) Buchfassung der Dissertation von Michael Gaidoschik. Das Buch ist im Peter Lang Verlag erschienen und kann über das Verzeichnis lieferbarer Titel bestellt werden.

Eine Rezension des Buches, verfasst von Dr. Friedrich Steeg, Rechenschwächeinstitut Volxheim (D), können Sie hier lesen.

Zum Inhalt:

Die aktuelle deutschsprachige Fachdidaktik sagt sehr klar und einhellig: Zählendes Rechnen  noch in höheren Schuljahren gilt als „Sackgasse der mathematischen Entwicklung“ (LORENZ & RADATZ 1993) und „Hauptmerkmal“ von Rechenschwächen (vgl. etwa SCHIPPER 2003). Kinder sollten daher möglichst schon im Laufe des ersten Schuljahres das „zählende Rechnen“ überwinden und zu nicht-zählenden Strategien („Faktenabruf“, „Ableitung“ ) übergehen.

Soweit die Zielvorgabe der Fachwissenschaft. Was aber ist österreichische Schulwirklichkeit?

Dazu liegen nun erstmals wissenschaftlich abgesicherte Daten vor. Die wesentlichen Ergebnisse dieser Studie werden im Folgenden kurz dargestellt.

1)    Design und Methoden

Die Dissertation (Universität Wien, Erstleser: Univ. Doz. Dr. Hanisch, Uni Wien; Zweitleserin: Prof.Dr. Anna Susanne Steinweg, Uni Bamberg) beruht auf vier empirischen Studien, die qualitative und quantitative Methoden kombinieren:
−    Längsschnittstudie mit qualitativen Interviews zur Ergründung der Rechenstrategien von 139 niederösterreichischen Kindern aus 20 Volksschulen/22 Klassen (strenge Zufallsauswahl) zu Beginn, Mitte, und am Ende ihres ersten Schuljahres
−    Qualitative Inhaltsanalyse der fünf im Unterricht dieser Kinder verwendeten Mathematik-Schulbücher
−    Befragung der 22 LehrerInnen dieser Kinder zu didaktisch-methodischen Gestaltung ihres Arithmetik-Unterrichts im ersten Schuljahr
−    Befragung der Eltern u.a. zum häuslichen Übungsaufwand im Rechnen während des ersten Schuljahres

2)    Wesentliche Ergebnisse der Längsschnittstudie zur Strategieentwicklung im ersten Schuljahr
  • Nur etwa 35 % der Kinder erreichen in ihrer Rechenstrategieentwicklung das von der aktuellen deutschsprachigen Fachdidaktik formulierte Ziel der weit gehenden Überwindung des zählenden Rechnens im ersten Schuljahr. Diese Kinder lösen wenigsten zwei Drittel der ihnen gestellten nicht-trivialen Additionen und Subtraktionen im Zahlenraum bis 10 durch Faktenabruf oder Ableitung. (Als „trivial“ gewertet wurden Verdoppelungsaufgaben im Zahlenraum bis 10, die am Ende des ersten Schuljahres von nahezu 100 % der Kinder auswendig gewusst wurden, sowie Additionen mit 1 als Summanden und Subtraktionen mit 1 als Subtrahenden.)
  • Auf der anderen Seite sind etwa 27 % der Kinder am Ende des ersten Schuljahres weit gehend zählende Rechner/innen, sie lösen mehr als zwei Drittel der nicht-trivialen Aufgaben durch eine Zählstrategie.
  • 7 % der Kinder lösen sämtliche nicht-trivialen Aufgaben im Zahlenraum bis 10 zählend.
  • Jene Kinder, die am Ende des ersten Schuljahres das zählende Rechnen im Zahlenraum bis 10 vollständig oder weitgehend überwunden haben, haben fast durchgehend im Laufe des ersten Schuljahres (in unterschiedlicher Intensität) sogenannte „Ableitungsstrategien“ verwendet, d.h.: Sie haben Aufgaben, die sie schon früh auswendig wussten (wie etwa Verdoppelungsaufgaben) benützt, um sich das Ergebnis noch nicht auswendig gewusster Aufgaben zu erschließen. Solche Strategien sind im Unterricht nicht oder nur am Rande behandelt worden (siehe unten). Diese Kinder scheinen solche Ableitungsstrategien also weitgehend selbstständig entwickelt zu haben. Es gibt starke empirische Hinweise dafür, dass gerade das wiederholte Lösen von Aufgaben mit Hilfe von Ableitungsstrategien wesentlich dazu beigetragen hat, dass die (zunächst abgeleiteten) Aufgaben am Ende des ersten Schuljahres oft bereits automatisiert waren.
  • Umgekehrt haben jene Kinder, die am Ende des ersten Schuljahres die nicht-trivialen Aufgaben im Zahlenraum bis 10 (fast) ausschließlich zählend lösten, in der Regel bei keinem der drei Interviews im Laufe des ersten Schuljahres Ableitungsstrategien verwendet. Auch diese Kinder wussten in der Regel einige Aufgaben auswendig (in der Regel zumindest die Verdoppelungen), nutzten diese aber nicht, um andere Aufgaben nichtzählend zu lösen.

 

3)    Wesentliche Ergebnisse der Unterrichtsanalyse

Die qualitative Inhaltsanalyse der Schulbücher, die im Unterricht dieser Kinder verwendet wurden, zeigt gravierende Verstöße aller fünf Lehrwerke  gegen zentrale Empfehlungen der aktuellen deutschsprachigen Fachdidaktik:

  • In allen fünf Schulbüchern wird der Zahlenraum bis 10 kleinschrittig eingeführt – gegen die einhellige klare Empfehlung der aktuellen deutschsprachigen Fachdidaktik, zumindest den Zahlenraum bis 10 (wenn nicht bis 20) als Ganzheit zu behandeln (zur Empfehlung vgl. etwa PADBERG 2005, S. 29).
  • Keines der Bücher ist in erkennbarer Weise dafür konzipiert, die von der aktuellen Fachdidaktik einmütig empfohlene Erarbeitung des Denkens von „Zahlen als Zusammensetzungen aus anderen Zahlen“ (GERSTER 2009, S. 267) wirksam zu unterstützen und auf dieser Basis nicht-zählende Rechenstrategien („Ableitungsstrategien“, s.o.) gezielt zu erarbeiten (vgl. dazu etwa GAIDOSCHIK 2007; GERSTER 1994, S. 47-62; GERSTER 2009, S. 262 ff.).
  • Keines der fünf Bücher liefert konsequent Anstöße und Anregungen dafür, dass Kinder über Rechenstrategien diskutieren und diese in Klassengesprächen erläutern und begründen (zur Bedeutung dieser gleichfalls einmütigen Empfehlung der aktuellen Fachdidaktik vgl. etwa SCHIPPER 2002, S. 137).
  • In allen fünf Büchern werden die Kinder mit einer „Flut von grauen Päckchen und bunten Hunden“ (vgl. WITTMANN 1994) konfrontiert, also mit mehrheitlich unstrukturierten Übungsaufgaben – gegen den einmütigen klaren Rat der Fachdidaktik, dass im frühen Arithmetikunterricht vorrangig operativ strukturiert geübt werden sollte, dass also die Aufgaben innerhalb eines „Übungspäckchens“ jeweils in einem quantitativ-gesetzmäßigen Zusammenhang stehen sollten, der mit den Kinder herauszuarbeiten ist (vgl. KRAUTHAUSEN & SCHERER 2007, S. 124 f.; WITTMANN 1994).
  • In allen fünf Büchern wird gegen den einhelligen Rat der aktuellen Fachdidaktik (vgl. dazu etwa KRAUTHAUSEN & SCHERER 2007, S. 24 ff.) für den Zehnerübergang ausschließlich das so genannte „Teilschrittverfahren“ (auch „Zehnerstopp“ genannt, Beispiel: 6+7 wird in die Teilschritte 6+4 und 10+3 zerlegt) thematisiert und nicht auch alternative Verfahren wie etwa „Verdoppeln plus 1“ (6+7 als 6+6+1) oder „Kraft der Fünf“ (6+7 als 5+5+1+2).

 

Wesentliche Ergebnisse der Lehrer/innenbefragung:
  • Die Lehrer/innen haben sich in didaktisch-methodischer Hinsicht eng an dem von ihnen jeweils verwendeten Schulbuch orientiert. Die Bücher wurden in allen Klassen von der ersten bis zur letzten Seite (mit allenfalls marginalen Auslassungen) abgearbeitet.
  • Zählendes Rechnen wurde in der Mehrheit der Klassen zumindest bis zum Ende des ersten Schulhalbjahres (und in zumindest sechs der 22 Klassen während des gesamten ersten Schuljahres) gezielt geübt.
  • Ableitungsstrategien wurden (den Schulbüchern gemäß) weitgehend vernachlässigt.
  • Dem Auswendiglernen von Grundaufgaben (welches in zumindest beschränktem Umfang auch unverzichtbare Grundlage für das Anwenden von Ableitungsstrategien ist) wurden nur von einer Minderheit (weniger als einem Drittel) der Lehrkräfte gezielte Maßnahmen im Unterricht und/oder zur Einbeziehung des häuslichen Übens gewidmet.

 

4)    Welche Konsequenzen sollte das österreichische Schulsystem aus den Ergebnissen dieser Studie ziehen?

Als vordringlichste pädagogische Konsequenz lässt sich aus der vorliegenden Studie ableiten, dass Maßnahmen zur Steigerung der didaktisch-methodischen Qualität des Arithmetikunterrichts in österreichischen Volksschulen erforderlich sind, wenn künftig verhindert werden soll, dass – wie es derzeit der Fall ist – ein beträchtlicher Teil der Kinder noch am Ende des ersten Schuljahres vorwiegend zählend rechnet und damit in seiner weiteren arithmetischen Entwicklung massiv beeinträchtigt ist.

Diese Maßnahmen betreffen in erster Linie die Aus- und Weiterbildung von Volksschullehrer/inne/n, die auf Grundlage ihres Ausbildungsstandes derzeit in vielen Fällen (der Autor kennt auch viele Ausnahmen!) nicht in der Lage sind, den Arithmetikunterricht im ersten Schuljahr gemäß den Empfehlungen der aktuellen Mathematik-Fachdidaktik gestalten zu können. Dass alle Lehrkräfte, die im Rahmen dieser Studie befragt wurden, erkennbar nach bestem Wissen und Gewissen und mit hohem pädagogischen Engagement unterrichtet haben, sei an dieser Stelle ausdrücklich festgehalten. Sie haben so unterrichtet, wie sie das gelernt haben und wie es die von ihnen verwendeten, vom Bundesministerium approbierten Schulbücher ihnen nahegelegt haben. Würde man nun den Lehrkräften die Verantwortung für die unerfreulichen Ergebnisse dieser Studie zuschieben, so wäre dies sachlich falsch und für die Weiterentwicklung des Mathematikunterrichts in Österreich fatal.
Ergänzend zu Maßnahmen in der Aus- und Fortbildung muss künftig sicher gestellt werden, dass Mathematik-Schulbücher, die vom Unterrichtsministerium als „für den Unterricht an Volksschulen geeignet“ approbiert werden, in zentralen Fragen der Didaktik und Methodik den Empfehlungen der aktuellen fachdidaktischen Forschung entsprechen. Dies ist bei keinem der fünf Unterrichtswerke der Fall, die in den für diese Studie nach Zufallsprinzip ausgewählten Klassen verwendet wurden.

Die Studie macht zudem die Notwendigkeit verstärkter Bemühungen um die frühe mathematische Bildung bereits im Kindergartenalter deutlich, ebenso die Notwendigkeit von Maßnahmen, um Mädchen in höherem Maße als bisher für die (frühe) Beschäftigung mit mathematischen Inhalten zu interessieren (Mädchen lösten, als Gruppe betrachtet, signifikant mehr Aufgaben durch Zählstrategien als Buben).

Weitere Informationen können Sie dieser Powerpoint Zusammenfassung entnehmen.