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Studie: Vom Zählen zum Rechnen

Eine Studie der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt und PH Kärnten zeigt eindrucksvolle Effekte von Fortbildungsmaßnahmen zur Gestaltung des Mathematikunterrichts

Univ.Prof. Mag. Dr. Michael Gaidoschik

professors at faculty of science of education and communication in BrixenKinder können meist schon rechnen, bevor sie in die Schule kommen. Sie kennen vielleicht noch nicht alle Ziffern, auch mit dem Plus- und Minuszeichen sind sie vielleicht noch nicht vertraut. Wenn man aber Aufgaben wie 3+4 oder 7-5 in Geschichten verpackt – „Du hast drei Zuckerl und bekommst vier dazu“ -, sind sie für die meisten Kinder schon im letzten Kindergartenjahr lösbar (vgl. Benz u.a. 2015, S. 145 f.). Die Lösung erfolgt dann in der Regel durch zählendes Rechnen: Das Kind zählt etwa mit „eins, zwei, drei“ zunächst drei Finger der einen Hand ab. Dann mit „eins, zwei, drei, vier“ vier Finger der anderen Hand. Und dann führt es mit „eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben“ alle ausgestreckten Finger zur Nasenspitze und weiß das Ergebnis.

Dieses zählende Rechnen sollte im ersten Schuljahr durch nichtzählendes Rechnen abgelöst werden: Darüber herrscht in der Fachdidaktik der Mathematik, der Wissenschaft vom Lernen und Unterrichten der Mathematik, seit vielen Jahren Einigkeit (vgl. Gaidoschik 2010, S. 212-219). Eine Form des nichtzählenden Rechnens ist das Rechnen durch Gedächtnisabruf: Das Kind hat sich bereits gemerkt, dass 3+4=7. Eine andere Form ist das sogenannte „Ableiten“: Das Kind weiß zwar nicht 3+4, aber 3+3 bereits auswendig (Verdoppelungen werden zumeist leichter gemerkt). Bei 3+4 denkt es: Wenn 3+3=6, dann muss 3+4 eins mehr sein, also: 3+4=7.

Gerade diese Form des ableitenden Rechnens sollte im Mathematikunterricht des ersten Schuljahres  gezielt gefördert werden. Denn es ist nachteilig für Kinder, wenn sie zu lange am zählenden Rechnen hängen bleiben: Zählendes Rechnen ist fehleranfällig, mühsam, verdirbt auf Dauer die Freude an der Beschäftigung mit Zahlen. Vor allem erschwert es das Erkennen von Zahlstrukturen, von Zusammenhängen zwischen Rechnungen, kurz: Es verbaut den Kindern den Zugang zu dem, was das Mathematische am Rechnen ist.

Es wäre keine vernünftige Alternative, die Kinder im ersten Schuljahr sämtliche Additionen und Subtraktionen im Zahlenbereich bis 20 auswendig lernen zu lassen. Es würde nicht klappen, weil so viele Rechnungen in so kurzer Zeit kaum gemerkt werden können. Vor allem aber: Wir wollen ja mathematisch denkende Kinder, keine kleinen Rechenmaschinen. Deshalb sollte im ersten Schuljahr das Ableiten ins Zentrum gestellt werden.

So sagt es jedenfalls die fachdidaktische Theorie. Wie sieht es in der Praxis aus?

Michael Gaidoschik, Gründer und wissenschaftlicher Leiter des Recheninstituts zur Förderung mathematischen Denkens und seit März 2014 als Professor für Didaktik der Mathematik in der Grundschule an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt und der Pädagogischen Hochschule Kärnten tätig, hat zu dieser Frage schon 2010 eine umfangreiche Studie vorgelegt. Untersucht wurden damals die Rechenstrategien von 139 zufällig ausgewählten Kindern aus 20 zufällig ausgewählten niederösterreichischen Volksschulen. Nur etwa 33 Prozent der damals interviewten Kinder hatten am Ende des ersten Schuljahres das zählende Rechnen weitgehend hinter sich gelassen. Etwa 27 Prozent lösten noch am Ende des ersten Schuljahres mehr als zwei Drittel der Aufgaben im Zahlenraum bis 10 zählend.

Bedeutet das, dass die Empfehlungen der Fachdidaktik praxisfern sind? Ist das von der Fachdidaktik gesteckte Ziel zu hoch? Oder liegt es am Unterricht, dass so viele Kinder ein grundsätzlich erreichbares Ziel verfehlen?

Der Unterricht war in den von Gaidoschik 2010 untersuchten niederösterreichischen Schulen sehr stark am jeweiligen Schulbuch orientiert. Die verwendeten Schulbücher wiederum boten den Kindern so gut wie keine Anregungen zum ableitenden Rechnen.

Eine Studie, die Gaidoschik derzeit in Kooperation mit Kolleginnen der AAU Klagenfurt (Anne Fellmann) sowie der PH Kärnten (Silvia Guggenbichler) in ausgewählten Kärntner Volksschulen durchführt, liefert deutliche Hinweise dafür, dass tatsächlich der Unterricht wesentlich mitentscheidend ist (vgl. Gaidoschik, Fellmann & Guggenbichler 2015). Durch Einzelinterviews wurden die Rechenstrategien von 71 ErstklässlerInnen erhoben, in deren Klassen besonderer Wert auf das Erarbeiten und Üben des Ableitens gelegt worden war. Die Lehrkräfte der Kinder hatten zuvor an einer aufwändigen Fortbildungsmaßnahme teilgenommen, die in Kärnten seit einigen Jahren unter der Abkürzung EVEU in Kooperation zwischen der PH Kärnten und dem Landesschulrat angeboten wird. EVEU steht für „Ein veränderter Elementarunterricht“; die angestrebte „Veränderung“ im Mathematikunterricht besteht dem Konzept der Fortbildungsmaßnahme gemäß vor allem auch darin, Kinder bereits im ersten Schuljahr vom zählenden Rechnen wegzuführen.

Erste Zwischenergebnisse der Studie zeigen deutlich, dass das gelingen kann. In zwei von vier untersuchten Kärntner Klassen war zählendes Rechnen im Zahlenraum 10 am Ende des Schuljahres gar nicht mehr zu beobachten. Die Kinder konnten die meisten Aufgaben in diesem Zahlenraum auswendig, einige wurden (in der Regel sehr rasch) abgeleitet. Die Kinder gehörten damit dem von Gaidoschik 2010 beschriebenen Typus „Faktenabruf & Ableiten“ an (vgl Tabelle 1). Zum Vergleich: In der Zufallsauswahl aus niederösterreichischen Klassen war dieser Typus mit gerade einmal 33 % der Kinder vertreten gewesen. In den beiden anderen Kärntner Klassen war der Anteil der Kinder, die das zählende Rechnen vollständig hinter sich gelassen hatten, zwar geringer (63 bzw. 44 Prozent). Umgekehrt gab es aber auch in diesen Klassen nur ein Kind (von 21) bzw. nur zwei Kinder (von 25), bei denen das zählende Rechnen noch die vorherrschende Art des Rechnens war. Diese Kinder gehörten dem Typus „vorwiegend zählendes Rechnen ohne Ableiten“ an, welcher in der Zufallsauswahl aus Niederösterreich am Ende des ersten Schuljahres 27 Prozent der Kinder umfasste.

2010 gesamt

2014 Klasse A

2014 Klasse B

2014 Klasse C

2014 Klasse D

Typus “Faktenabruf & Ableiten”

33 %

100 %

100 %

63 %

44 %

Typus “Vorwiegend zählendes Rechnen ohne Ableiten“

27 %

0 %

0 %

5 %

8 %

Tabelle 1: Prozentsatz der Kinder, die in den Studien 2010 bzw. 2014 am Ende des ersten Schuljahres
den Typen „Faktenabruf & Ableiten“ bzw. „Vorwiegend zählendes Rechnen“ angehörten

Besonders deutlich waren die Vorteile der Kinder aus den vier Kärntner Klassen bei Aufgaben mit Überschreitung der Zahl 10, wie etwa 6+7 oder 14-9. In der Zufallsauswahl aus Niederösterreich waren solche Aufgaben am Ende des ersten Schuljahres zu mehr als 50 % zählend gelöst worden (vgl. Tabelle 2). In zwei der vier Kärntner Klassen wurden auch diese schwierigeren Aufgaben zu 100 % bzw. 97 % nichtzählend gelöst. Auch in den beiden anderen Klassen lag der Anteil zählenden Rechnens mit 11 % bzw. 22 % deutlich unter dem der niederösterreichischen Kinder.

Zufallsauswahl NÖ 2010

2014 Kärnten Klasse A

2014 Kärnten Klasse B

2014 Kärnten Klasse C

2014 Kärnten Klasse D

Gedächtnisabruf oder Ableitung

31 %

100 %

97 %

72 %

53 %

Zählendes Rechnen

52 %

0 %

0 %

11 %

22 %

Tabelle 2: Häufigkeit von nichtzählendem und zählendem Rechnen bei 8 Aufgaben
mit Überschreitung der Zahl 10 am Ende des ersten Schuljahres

 

Mit gutem, zeitgemäßem Mathematikunterricht lässt sich also viel erreichen für einen guten Einstieg der Kinder in die Mathematik. Und ein solcher ist nicht nur für den weiteren Mathematikunterricht wichtig, wie schon William Clifford (1845-1879) wusste: „Die Mathematik ist das Tor zur Naturwissenschaft, und dieses Tor ist so eng und schmal, dass man nur als kleines Kind hineinkommen kann.“

 

Literatur:

Benz, Ch., Peter-Koop, A. & Grüßing, M. (2015): Frühe mathematische Bildung. Mathematiklernen der Drei- bis Achtjährigen. Berlin, Heidelberg: Springer.

Gaidoschik, M. (2010): Wie Kinder rechnen lernen – oder auch nicht. Frankfurt/Main: Peter Lang.

Gaidoschik, M., Fellmann, A. & Guggenbichler, S. (2015): Computing by counting in first grade: It ain’t
necessarily so. In: Proceedings of the Ninth Congress of the European Society for Research in Mathematics Education CERME 9, Prague (accepted, not yet published).