Die folgenden Ausführungen sind als Hilfestellung für LehrerInnen, HorterzieherInnen, Eltern rechenschwacher Kinder und Jugendlicher gedacht. Ziel ist es, einige grundlegende Überlegungen zum richtigen Einsatz von Anschauungsmaterial zu vermitteln, die sich in unserer langjährigen Praxis in der Förderung „rechenschwacher“ Kinder bewährt haben.
Jeder, der diese Überlegungen in eigener Arbeit mit einem rechenschwachen Kind umsetzen möchte, sollte – im Interesse des Kindes – allerdings einige Grundtatsachen immer im Auge behalten.
1.
Was mit „Rechenschwäche“ umschrieben wird, das ist auf der einen Ebene eine Fülle von mathematischen Fehlvorstellungen, Missverständnissen, fehlerhaften Konzepten – sowie eine Fülle von Strategien zur Kompensation genau dieser Verständnismängel.
Diese Vorstellungen, Konzepte, Strategien gehorchen einer inneren Logik. Die Fehler rechenschwacher Kinder passieren also nicht „zufällig“, in der Regel auch nicht deshalb, weil das Kind sich zu wenig konzentriert oder zu wenig geübt hätte. Was das letztere betrifft, ist zumeist sogar das Gegenteil zu bemerken: Mit rechenschwachen Kindern wird häufig zu viel, jedoch in falscher Weise geübt.
Die zugrundeliegenden Defizite im mathematischen Fundament werden (in Unkenntnis) übergangen. Das zeitlich oft gewaltig aufgeblähte Wiederholen des aktuellen Schulstoffes führt auf dieser Basis aber regelmäßig nur zu der Enttäuschung, dass gestern Gelerntes heute wieder vergessen ist – als hätte das Kind noch nie davon gehört.
Unerlässlich für jedes zielführende Arbeiten mit rechenschwachen Kindern ist daher die detaillierte Kenntnis der individuellen Ausgangslage des Kindes. Von dieser weg müssen in oft kleinsten Schritten Missverständnisse ausgeräumt, muss das fehlende Grundverständnis nachträglich erarbeitet werden – auch dann, wenn der „Schulstoff“ bereits viel weitergehende Anforderungen stellt. Wird dagegen dieses „individuelle Fehlerprofil“ nicht berücksichtigt, dann steht zu befürchten, dass auch an sich bestens geeignete Übungen mit bestens geeigneten Materialien ohne jede positive Wirkung verpuffen werden.
Gerade die Erstellung eines solchen detaillierten Fehlerprofils, die Fein-Diagnostik einer Rechenstörung, erfordert ein hohes Maß an Sachkenntnis und Erfahrung. Scheuen Sie sich daher nicht, im Zweifelsfall dafür die Hilfe von Experten in Anspruch zu nehmen.
2.
„Rechenschwäche“ ist auf einer zweiten, mindestens so wichtigen Ebene aber auch ein psychisches Problem.
Rechenschwache Kinder und Jugendliche verarbeiten ihr fortlaufendes Scheitern in Mathematik seelisch in unterschiedlichster Weise, häufig jedoch nimmt das intellektuelle Selbstvertrauen erheblichen Schaden, entwickeln sich Fachangst, Misserfolgserwartung, Blockaden.
Auch diese, oft über viele Jahre verfestigte psychische Stellung des Kindes zu seinem mathematischen Problem muss individuell richtig erfasst, in seinen Wechselwirkungen verstanden und Schritt für Schritt durch geeignete Maßnahmen überwunden werden.
Gerade Eltern laufen aufgrund ihrer hohen emotionalen Beteiligung Gefahr, ihre guten Absichten beim Üben durch falschen Umgang mit den geschilderten psychischen Phänomenen zunichte zu machen.
Tatsächlich wird durch die Ausübung von Druck, das Zeigen von Ungeduld, durch Gereiztheit über falsche Antworten, durch die Vermittlung von Zweifeln an Intelligenz und Lernfähigkeit des Kindes mitunter sogar mehr Schaden angerichtet als geholfen.
Aus diesem Grund legen die deutschen Rechenschwäche-Kapazitäten Lorenz und Radatz in ihrem Standardwerk („Handbuch des Förderns im Mathematikunterricht“, Hannover 1993, S.77 f) sogar nahe, Eltern das Üben mit ihren rechenschwachen Kindern zu verbieten. Dies erscheint uns in der Mehrzahl der Fälle mangels Alternative einfach unrealistisch.
Die gewichtige psychische Dimension einer Rechenschwäche muss Eltern (aber natürlich auch jeder anderen Betreuungsperson) jedoch vollkommen bewusst sein, wenn Fehler beim Arbeiten mit einem rechenschwachen Kind vermieden werden sollen.
Fazit
Zielführende Aufbauarbeit mit rechenschwachen Kindern erfordert eine detaillierte Analyse des Ausgangs-Standes. Wer ohne Berücksichtigung der vorhandenen Fehlvorstellungen sowie der psychischen Sonderlage eines rechenschwachen Kindes mit diesem Schulstoff paukt, läuft Gefahr, die Probleme nur noch zu verschärfen.
1. Im Grunde führt die Bezeichnung „Anschauungs-Material“ bereits in die Irre; weitaus treffender wäre es, von „Erarbeitungs-Material“ zu sprechen.
Denn worum es geht, wenn eine Rechenschwäche überwunden werden soll, ist nicht einfach die „Anschauung“ im Sinne von: etwas anschauen, sehen können.
Sondern es geht darum, dass das rechenschwache Kind einen mathematischen Sachverhalt begreift, dessen mathematische Struktur durchschaut. Diese Begreifen, Durchschauen muss durch geistige Arbeit errungen werden. Dafür ist das Selber-Hantieren, die manuelle Arbeit mit dem richtigen Material freilich eine wichtige Hilfe. Aber:
2. Auch das beste Material sorgt nicht von selbst dafür, dass das Kind die richtige mathematische Einsicht entwickelt.
Gerade rechenschwache Kinder neigen umgekehrt dazu, jegliches Material erst einmal im Sinne ihrer bereits vorhandenen Fehlvorstellungen zu verstehen – oder, wo das nicht funktioniert, gänzlich abzulehnen.
Ihre falschen mathematischen Konzepte werden durch das „richtige“ Material also nicht automatisch korrigiert. Sondern das Kind wird, auf sich alleine gestellt, umgekehrt das Material in den Dienst seiner falschen Konzepte stellen.
So „missbraucht“ es dann beispielsweise ein als Mengen-Darstellung gedachtes Rechenbrett als bloße Zähl-Hilfe – ohne dabei den Mengen-Aspekt der Zahl in der gewünschten Weise zu erfassen.
So wichtig es also ist, dass das rechenschwache Kind selbst mit dem Material hantieren kann, so unerlässlich ist es, dass sein Materialeinsatz gesteuert wird. Gesteuert von einer Person, die mit den kindlichen Denkweisen, den möglichen Missverständnissen auf jeder Ebene ebenso vertraut ist wie mit der Systematik der mathematischen Schritte, die es zu erarbeiten gilt.
3. Das Wesentliche ist also gar nicht das Erarbeitungs-Material selbst. Sondern wesentlich ist, in welcher Weise dieses Material vom Kind unter Anleitung eines Betreuers verwendet wird.
Dazu weiter unten mehr bei der Besprechung einzelner geeigneter Materialien. Soviel aber schon vorweg:
Ziel des Material-Einsatzes muss es sein, das Material überflüssig zu machen. Das Erarbeitungs-Material sollte eine Leiter sein, auf der das Kind zum Verständnis einer mathematischen Struktur, einer Operation gelangt – und die es, sobald es dort angelangt ist, wieder wegwirft.
4. Dieses „Wegwerfen des Materials“ gelingt aber in der Regel nur dann, wenn es in der Arbeit mit dem rechenschwachen Kind beständig ganz gezielt angesteuert wird.
Das Kind muss also immer wieder dazu angehalten und ermutigt werden, das mittels Material bereits erarbeitete Verständnis nun auch ohne Materialeinsatz bis an seine Grenzen auszureizen.
5. Es wird dabei viel und vielfältige Unterstützung brauchen: Rechenschwachen Kindern fällt es oft schwer, Handlungen innerlich nachzuvollziehen.
Es genügt daher zumeist nicht (wie es vielleicht bei nicht-rechenschwachen Kindern genügen wird), wenn das rechenschwache Kind einen bestimmten Schritt wiederholt mit Material selbst durchführen kann. Sobald man ihm das Material entzieht, ist es dann doch wieder ratlos, weil es die vielleicht schon dutzendfach selbst ausgeführte Handlung dennoch ohne Hilfe nicht innerlich nachvollziehen kann.
6. Die richtige Antwort darauf kann aber nicht darin liegen, das Kind einfach immer wieder in gleicher Weise zum Material greifen zu lassen.
Sondern es muss ermutigt und – durch Anregungen, Strukturierungshilfen, durch gezielte Erinnerung an das soeben Durchgeführte – auch befähigt werden, zumindest Teile der mathematischen Handlung nun auch im Geist, in der Vorstellung zu vollziehen.
7. Als wichtiger Zwischenschritt dafür hat sich der verdeckte Einsatz von Material erwiesen:
Das Material wird nach einer ersten Erarbeitungsphase unter einem Tuch, einer Schüssel, hinter einer Trennwand … der unmittelbaren Anschauung entzogen. Das Kind kann in einer bestimmten Phase – zum Beispiel unter dem Tuch – vielleicht noch mit dem Material hantieren, kann es aber nicht mehr sehen. So wird einerseits seine Vorstellung gefordert, andererseits aber auch gefördert: Die konkrete Erinnerung „Unter dem Tuch ist das, womit ich gerade noch selbst gearbeitet habe!“ erleichtert den geistigen Nachvollzug entscheidend.
8. „Weniger ist mehr!“ gilt also auch beim Einsatz von Erarbeitungsmaterial in der Arbeit mit rechenschwachen Kindern – in doppelter Hinsicht:
Erstens muss, wie ausgeführt, immer wieder ausgereizt werden, wie viel bereits ohne Material möglich ist. Das „weniger ist mehr“ ist hier freilich streng relativ zu verstehen:
So wenig Material-Einsatz, wie es für dieses spezielle Kind möglich ist – und so viel, wie eben nötig. Denn ein rechenschwaches Kind wird auch bei optimaler Förderung zumeist längere Phasen benötigen, in denen es unter Anleitung mit dem Material hantieren kann.
Es geht nur darum, diese Phasen optimal, und das heißt: im Sinne eines dauerhaften Begreifens, zu nutzen.
Zweitens aber sollte man dabei versuchen, mit möglichst wenigen Varianten von Material auszukommen. Das Hin- und Herwechseln zwischen verschiedenen Materialien in der Erarbeitung ein- und desselben mathematischen Schrittes wird rechenschwache Kinder der Erfahrung nach eher verwirren, als ihnen zu helfen.
FAZIT:
Nicht das Material selbst ist entscheidend für den Erfolg, sondern seine richtige Verwendung. Richtige Verwendung heißt aber auch, im entscheidenden Augenblick auf das Material wieder zu verzichten.