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PISA und „Rechenschwächen“

rechnen-8PISA 2006 weist für Österreich in Mathematik eine „Risikogruppe” von 20% aus (2003: 19%). Das heißt in den Erläuterungen von PISA: Bei 20% der österreichischen Jugendlichen „ist das Risiko groß, dass das offensichtliche Fehlen grundlegender mathematischer Kompetenzen ihre zukünftige Teilhabe am modernen beruflichen und gesellschaftlichen Leben beeinträchtigt.” In Finnland umfasst diese „Risikogruppe” 6% der Jugendlichen.

20% „mathematische Analphabeten”!

Nun gibt es freilich eine Fülle von Einwänden gegen PISA – nicht nur (aus sehr durchsichtigen Gründen und mit entsprechend haltlosen Argumenten) von Seiten mancher PolitikerInnen, sondern durchaus auch (mit plausibler Argumentation) von wissenschaftlicher Seite.

Andererseits: Um über das Ausmaß von mathematischem Nicht-Wissen unter Österreichs Jugendlichen zu erfahren (und dann hoffentlich bestürzt zu sein), hätte man nicht auf PISA warten müssen. Insofern sind ein paar Prozentpunkte auf oder ab, ein paar Plätze rauf oder runter im “Länder-Ranking” zumindest in dieser Frage ohne Belang:

Denn die Fachwissenschaft weiß (unabhängig von PISA) seit langem, dass ein beträchtlicher Teil österreichischer VolksschülerInnen „rechenschwach” ist. Als „rechenschwach” bezeichnen Pädagogik und Grundschul-Fachdidaktik Kinder, die in den grundlegenden mathematischen Bereichen Zahlverständnis, Stellenwertverständnis, Verständnis der Grundrechenarten unzureichende Konzepte ausprägen und alleine schon deshalb bei höheren Stufen der Grundschulmathematik (und erst recht der Sekundarstufenmathematik) zum Nicht-Verstehen und Scheitern verurteilt sind.

„Ein beträchtlicher Teil” – das ist deshalb so unbestimmt, weil (bislang) offenbar kein allzu großes Interesse daran vorhanden war, das Ausmaß des Problems genauer zu bestimmen. Doch wir haben Studien aus Deutschland (das mit 21% eine ähnlich große „Risikogruppe Mathematik” hat wie Österreich), wonach 15% der GrundschülerInnen eine „förderbedürftige Rechenschwäche” aufweisen (Lorenz/Radatz, 1993); wir haben eine Studie aus Österreich (Lenart u.a. 2003), wonach österreichische Volksschul-LehrerInnen den Anteil förderbedürftig rechenschwacher Kinder in ihren Klassen etwa ebenso hoch einschätzen.

Aus „rechenschwachen” VolksschülerInnen, gegen deren „Rechenschwäche” nichts unternommen wird, werden später „rechenschwache” Jugendliche. Auch über „Rechenschwäche in der Sekundarstufe” existieren in der Zwischenzeit aussagekräftige Studien (Moser-Opitz, 2005; Schäfer, 2005), die bestätigen, dass „rechenschwache Jugendliche” im Wesentlichen an ihren Defiziten im Bereich der Grundschulmathematik scheitern.

Nun ist PISA freilich kein Instrument zur Erhebung von „Rechenschwächen”. Angesichts dessen, was „Rechenschwäche in der Sekundarstufe” einerseits heißt und andererseits in den PISA-Mathematikaufgaben gefordert wird, liegt es aber auf der Hand, dass die PISA-„Risikogruppe Mathematik” zu einem Gutteil von „rechenschwachen” Jugendlichen gebildet wird.

Wer also ernsthaft etwas gegen den von PISA ausgewiesenen „mathematischen Analphabetismus” eines Fünftels der österreichischen Jugendlichen unternehmen möchte, der muss in der Volksschule (und wohl auch schon im Kindergarten) anfangen.

Tatsächlich aber wird in Österreichs Volksschulen (und Kindergärten) bislang so gut wie nichts gegen „Rechenschwäche” unternommen; im Gegenteil:

Es lässt sich zeigen (vgl. Gaidoschik: Die „didaktogene Komponente”. Kritische Anmerkungen zur herkömmlichen Didaktik anhand ausgewählter Stoffbereiche. In: Lenart, F. /Holzer, N./Schaupp, H. (Hg.): Rechenschwäche, Rechenstörung, Dyskalkulie: Erkennung, Prävention, Förderung. Graz: Leykam, 2003), dass vielmehr der Mathematik-Unterricht, wie er an österreichischen Volksschulen gang und gäbe ist, selbst einen beträchtlichen Anteil am Entstehen von „Rechenschwächen” hat.

An dieser Stelle eine wichtige Klarstellung: Das ist eine Kritik am „System Schule”, keine Schuldzuweisung an die einzelne Klassenlehrerin, den einzelnen Klassenlehrer. Denn erstens gibt es natürlich auch viele LehrerInnen, die ihren Unterricht an den Erkenntnissen der aktuellen Fachdidaktik ausrichten und dadurch das im Klassenverband Mögliche zur Vorbeugung von „Rechenschwächen” beitragen. Zweitens: Dort, wo der Unterricht selbst nachweislich das Aufkommen von „Rechenschwächen” begünstigt, passiert dies natürlich nicht aufgrund von mangelndem Engagement, geschweige denn in böser Absicht. Tatsache ist aber, dass wir in Österreich (wie übrigens auch in anderen Ländern) eine Tradition des Volksschul-Mathematikunterrichts haben, die es – maßgeblich gestützt von veralteten Schulbüchern – Kindern unnötig schwer macht, grundlegende Bereiche der Mathematik zu begreifen und auf diese Weise das Entstehen von „Rechenschwäche” begünstigt.

Wir vom Rechennstitut halten das für einen Skandal – nicht erst seit PISA. Wir bemühen uns seit 1995 darum, die Öffentlichkeit darauf aufmerksam zu machen, Änderungen, Verbesserungen für die Betroffenen herbeizuführen.

Was geschehen sollte – im Interesse der „Rechenschwachen” und zur Vermeidung von „Rechenschwäche” –, das haben wir vor einigen Monaten in einem Forderungskatalog (PDF, 197 KB) formuliert; der Forderungskatalog wurde als Diskussionspapier an BildungspolitikerInnen (natürlich auch an Frau Bundesministerin Schmied), Schulverantwortliche und Journalisten versandt.

Wir hatten damit bislang keinen Erfolg (wobei wir es bereits als Erfolg betrachten würden, wenn eine Diskussion über „Rechenschwäche” und die Verantwortung des Schulwesens zustande käme). Vielleicht ist PISA 2006 ein Anstoß, diese längst fällige Diskussion nun endlich aufzunehmen? Wir bemühen uns jedenfalls weiter darum. Wenn Sie diese Bemühungen unterstützen wollen: Zetteln Sie diese Diskussion in Ihrem Tätigkeitsbereich an – und schicken Sie uns gerne auch einen entsprechenden Beitrag für das Forum auf unserer Homepage!