Dieser Artikel ist in der Zeitschrift des Österreichischen Bundesverbandes Legasthenie (ÖBVL) in der Ausgabe 02/2020 erschienen.
„Hilfe, mein Kind kann nicht rechnen!“
Ein ganz normaler Montagnachmittag: Max sitzt mit seiner Mutter mittlerweile 90 Minuten bei seiner Mathematikhausaufgabe. Es will heute wieder gar nichts klappen. Die Mutter wird zunehmend ungeduldiger, Max kann sich nicht mehr konzentrieren – die Worte seiner Mutter belasten ihn immer mehr: „Das gibt’s doch nicht, dass man das nicht kann, wir üben und üben und du bist nicht im Stande, die einfachsten Rechnungen zu schaffen! Lass doch endlich die Finger beim Rechnen weg.“ Max weint, die Mutter wird lauter, die Hausaufgabe ist noch immer nicht fertig.
Max‘ Mutter hat auch alle Ratschläge der Lehrerin befolgt: Es sei die mangelnde Übung, meinte sie. „Wenn Max mehr tut, dann wird er die Finger beim Rechnen nicht mehr brauchen und dann geht auch der Knopf auf.“ So die Worte der Lehrerin.
Und deshalb wurde jede freie Minute zum Üben genützt. Erfolglos.
Diese Szenen sind in der Praxis häufiger zu finden, als man denkt. Sehr viele Kinder leiden an Rechenschwäche. Diese Kinder verwenden noch über die 1. Volksschule hinaus die Finger als Zählhilfen, kommen rein zählend zum Ergebnis und plagen sich mit der Orientierung im Zahlenraum. Nicht selten werden Zehner und Einer verwechselt, es kommt zu Zahlendrehern oder Fehlspeicherungen diverser Ergebnisse. Der Schulstoff kann nicht mehr problemlos bewältigt werden.
Dass Üben alleine nicht die Lösung ist, wissen mittlerweile auch schon die leidgeplagten Eltern. Üben bringt nicht das notwendige Verständnis, das diesen Kindern fehlt. Es wird in diesen Fällen nur das Zählen geübt; die Kinder zählen dadurch immer schneller, gerechnet wird jedoch nicht. Die Übung ist kontraproduktiv, da etwas gefestigt wird, das tunlichst vermieden werden soll: das zählende Rechnen.
Es bleibt den Kindern auch keine Alternative: Bei ca. 140 verschiedenen Rechnungen im Zahlenraum 10 bliebe ihnen ansonsten nur die Möglichkeit, alle auswendig zu lernen – ein Unterfangen, das von Vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Oder sie zählen eben, da keine Zusammenhänge oder Analogien erkannt werden. Für ein rechenschwaches Kind ist die Rechnung 3 + 4 dann bloß eine isolierte Rechnung. Sie wird nicht im Zusammenhang mit 3 + 3 gesehen und als nur um 1 mehr erkannt. 3 + 4 muss also mühsam gezählt werden.
Zählendes Rechnen ist indes definitiv eine Sackgasse! Im großen Zahlenraum ist diese Art, zum Ergebnis zu kommen, schlicht nicht mehr durchführbar, es ist fehleranfällig und bedarf hoher Konzentration, die in weiterer Folge fehlt. Ein rechenschwaches Kind, das mit Mühe zwei oder drei Rechnungen erledigt hat, wird immer frustriert sein, wenn der Sitznachbar in kürzester Zeit ein Vielfaches davon schafft.
Die Früherkennung bei derartigen Defiziten ist ein ganz wichtiger Faktor. Denn Kinder, die nicht von selbst Zusammenhänge zwischen den einzelnen Rechnungen erkennen, die keine Analogien wahrnehmen und immer wieder mit diversen Zählhilfen zum Ergebnis kommen, bedürfen ehestmöglich einer gezielten mathematischen Förderung. Die Zusammenhänge einzelner Operationen, das Denken in strukturierten Mengen und Analogien müssen durch gezielte individuelle Übungen erarbeitet werden. Diese Defizite können von geschulten Experten schon in der ersten Klasse Volksschule erkannt und dann frühzeitig aufgearbeitet werden.
Wichtig ist es jedenfalls, das Kind dort mathematisch abzuholen, wo es inhaltlich gerade steht. Dies gelingt nur durch eine qualitative Diagnostik. Die betroffenen Mankos werden mittels förderdiagnostischen Gesprächs erhoben, bei dem die Kinder gezielt diverse Rechengänge beschreiben, deren Verständnis überprüft wird und genau beobachtet wird, wie das Kind zum Ergebnis kommt. Diese Erkenntnisse bilden dann Grundlage der Förderarbeit. Nur dadurch kann dem Kind ein mathematisches Fundament geboten werden, das die Aufarbeitung der angesammelten Defizite, Fehlvorstellungen und unvorteilhaften Rechenstrategien beinhaltet, damit dem Folgen des Schulstoffes nichts mehr im Wege steht. Herkömmliche Nachhilfe wäre hier sicherlich der falsche Weg.
Die Frustration der Kinder ergibt sich primär durch die schlechten Erfahrungen, die mit dem Üben daheim und dem Arbeiten in der Schule verbunden werden. Wer möchte schon immer der letzte beim Rechenkönig sein, sich unwohl fühlen, weil man ausgelacht wird oder ständig ermahnt wird, weil die Rechnungen wieder nicht richtig waren? Angst vor Mathematik, das Vermeiden von Situationen mit Zahlen im Alltag und eine Abneigung gegenüber dem Üben resultieren daraus.
Wenn man dem Kind aber die Möglichkeit gibt, alle unklaren Dinge klarer zu sehen, Missverständnisse auszuräumen und Schritt für Schritt an den Schulstoff anzuschließen, dann steht einem Erfolg in Mathematik auch nichts mehr im Weg! Wichtig ist nur, dass das Kind auf jenem mathematischen Niveau abgeholt wird, auf dem es steht. Dann können ihm auch Erfolgserlebnisse ermöglicht werden und es kann dadurch mit viel Motivation wieder durchstarten!
Aber wie kommt es überhaupt zu Rechenschwäche? Die Ursachen dafür sind vielfältig. Lehrer- oder Schulwechsel, verschiedene Erklärungsmuster diverser Personen, längeres Fernbleiben der Kinder von der Schule, die Psyche des Kindes selbst und häufig falsche Didaktik können dazu beitragen, mathematische Missverständnisse und Fehlvorstellungen zu forcieren. Das unterschiedliche mathematische Niveau des Wissens der Kinder am Beginn der 1. Klasse wird jedoch als wichtigster Prädiktor angesehen. So kann es nämlich vorkommen, dass in den ersten Schulwochen schon über Defizite hinweggesehen wird, die in weiterer Folge ein mathematisches Grundverständnis erschweren und schon von Beginn an wie ein lästiger Rucksack mitgeschleppt werden, ohne noch jemals ein Mathematikbuch geöffnet zu haben.
So sehr also viele Ursachen zur Rechenschwäche beitragen können, Ausweg aus diesem Dilemma gibt es nur einen: Die mathematikspezifische Einzelförderung durch eine/n gut ausgebildete/n Mathematikdidaktiker/in!
Dafür ist es empfehlenswert, schon nach wenigen Monaten des ersten Schuljahres genau zu beobachten, welche Entwicklungen im rechnerischen Verhalten womöglich unterbleiben, und dann umgehend Rat bei einem Experten zu suchen. Die Schule wird in den meisten Fällen leider nur unzureichend helfen können, weil die notwendigen Ressourcen erfahrungsgemäß nicht zur Verfügung stehen.
Mag. Ute Vonkilch
Leiterin des Recheninstituts zur Förderung mathematischen Denkens
1080 Wien, Wickenburggasse 14/9